Ist die Besoldung der Richter (der Besoldungsgruppen R1, R2 und R3) in Berlin wegen Verstoßes gegen das Alimentationsprinzip verfassungswidrig zu niedrig bemessen? Dies hat das BVerfG mit Beschluss vom 4.5.2020 bejaht (BVerfG, Beschluss vom 04. Mai 2020 – 2 BvL 4/18 –, juris).
Zu Grunde liegen die Besoldungsklagen von Berliner Richtern, bei denen das BVerwG im Revisionsverfahren das Verfahren gem. Art. 100 Abs. 1 GG wegen Zweifeln an der verfassungsrechtlichen Haltbarkeit der Berliner Besoldung in den dort streitgegenständlichen Besoldungsgruppen R1, R2 und R3 ausgesetzt und dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt hatte (vgl. BVerwG, Vorlagebeschluss vom 22. September 2017 – 2 C 56/16, 2 C 57/16, 2 C 58/16 –, BVerwGE 160, 1-54).
Die wesentliche Erwägungen des BVerfG im Beschluss vom 4.5.2020 lauten nun:
„I. Das zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums zählende Alimentationsprinzip verpflichtet den Dienstherrn, Richtern und Beamten sowie ihren Familien lebenslang einen Lebensunterhalt zu gewähren, der ihrem Dienstrang und der mit ihrem Amt verbundenen Verantwortung angemessen ist und der Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards entspricht. Damit wird der Bezug der Besoldung sowohl zu der Einkommens- und Ausgabensituation der Gesamtbevölkerung als auch zur Lage der Staatsfinanzen hergestellt. Diese Gewährleistung einer rechtlich und wirtschaftlich gesicherten Position bildet die Voraussetzung und innere Rechtfertigung für die lebenslange Treuepflicht sowie das Streikverbot. Der Besoldungsgesetzgeber verfügt über einen weiten Entscheidungsspielraum. Dem entspricht eine zurückhaltende verfassungsgerichtliche Kontrolle. Ob die Bezüge evident unzureichend sind, muss anhand einer Gesamtschau verschiedener Kriterien geprüft werden. Dies erfolgt in mehreren Schritten:
Auf der ersten Prüfungsstufe wird mit Hilfe von fünf Parametern ein Orientierungsrahmen für eine grundsätzlich verfassungsgemäße Ausgestaltung der Alimentationsstruktur und des Alimentationsniveaus ermittelt (Vergleich der Besoldungsentwicklung mit der Entwicklung der Tarifentlohnung im öffentlichen Dienst, des Nominallohnindex sowie des Verbraucherpreisindex, systeminterner Besoldungsvergleich und Quervergleich mit der Besoldung des Bundes und anderer Länder). Beim systeminternen Besoldungsvergleich ist neben der Veränderung der Abstände zu anderen Besoldungsgruppen in den Blick zu nehmen, ob in der untersten Besoldungsgruppe der gebotene Mindestabstand zum Grundsicherungsniveau eingehalten ist. Ein Verstoß hiergegen betrifft insofern das gesamte Besoldungsgefüge, als sich der vom Gesetzgeber selbst gesetzte Ausgangspunkt für die Besoldungsstaffelung als fehlerhaft erweist.
Auf der zweiten Prüfungsstufe sind die Ergebnisse der ersten Stufe mit den weiteren alimentations-relevanten Kriterien im Rahmen einer Gesamtabwägung zusammenzuführen. Werden mindestens drei Parameter der ersten Prüfungsstufe erfüllt, besteht die Vermutung einer verfassungswidrigen Unteralimentation. Werden umgekehrt bei allen Parametern die Schwellenwerte unterschritten, wird eine angemessene Alimentation vermutet. Sind ein oder zwei Parameter erfüllt, müssen die Ergebnisse der ersten Stufe, insbesondere das Maß der Über- beziehungsweise Unterschreitung der Parameter, zusammen mit den auf der zweiten Stufe ausgewerteten Kriterien im Rahmen der Gesamtabwägung eingehend gewürdigt werden. Ergibt die Gesamtschau, dass die zur Prüfung gestellte Besoldung grundsätzlich als verfassungswidrige Unteralimentation einzustufen ist, bedarf es auf der dritten Stufe der Prüfung, ob dies ausnahmsweise gerechtfertigt sein kann.
II. An diesen Maßstäben gemessen sind die Vorgaben des Art. 33 Abs. 5 GG nicht erfüllt.
Eine Gesamtschau der für die Bestimmung der Besoldungshöhe maßgeblichen Parameter ergibt, dass die im Land Berlin in den verfahrensgegenständlichen Jahren und Besoldungsgruppen gewährte Besoldung evident unzureichend war. Sie genügte nicht, um Richtern und Staatsanwälten nach der mit ihrem Amt verbundenen Verantwortung und nach der Bedeutung dieser Ämter für die All-gemeinheit einen der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und des allgemeinen Lebensstandards angemessenen Lebensunterhalt zu ermöglichen. Bei der Fest-legung der Grundgehaltssätze wurde die Sicherung der Attraktivität des Amtes eines Richters oder Staatsanwalts für entsprechend qualifizierte Kräfte, das Ansehen dieses Amtes in den Augen der Gesellschaft, die von Richtern und Staatsanwälten geforderte Ausbildung, ihre Verantwortung und ihre Beanspruchung nicht hinreichend berücksichtigt.
Für alle verfahrensgegenständlichen Jahre lässt sich feststellen, dass die Besoldungsentwicklung in den jeweils vorangegangenen 15 Jahren um mindestens 5 % hinter der Entwicklung der Tariflöhne im öffentlichen Dienst und der Verbraucherpreise zurückgeblieben war. In den Jahren 2010 bis 2014 lag die Differenz zur Tariflohnsteigerung bei über 10 %. Auch wurde das Mindestabstandsgebot in den unteren Besoldungsgruppen durchgehend deutlich verletzt. Hinsichtlich der Entwicklung des Nominallohnindex und im Quervergleich mit der Besoldung in Bund und Ländern wurden die maßgeblichen Schwellenwerte nicht überschritten. Weil damit drei von fünf Parametern der ersten Stufe erfüllt sind, besteht die Vermutung einer verfassungswidrigen Unteralimentation.
Diese wird erhärtet, wenn man im Rahmen der Gesamtabwägung die weiteren alimentationsrelevanten Kriterien einbezieht. Mit dem Amt eines Richters oder Staatsanwaltes sind vielfältige und anspruchsvolle Aufgaben verbunden, weshalb hohe Anforderungen an den akademischen Werdegang und die Qualifikation ihrer Inhaber gestellt werden. Gleichwohl hat das Land Berlin nicht nur die formalen Einstellungsanforderungen abgesenkt, sondern auch in erheblichem Umfang Bewerber eingestellt, die nicht in beiden Examina ein Prädikat („vollbefriedigend“ und besser) erreicht hatten. Dies zeigt, dass die Alimentation ihre qualitätssichernde Funktion, durchgehend überdurchschnittliche Kräfte zum Eintritt in den höheren Justizdienst in Berlin zu bewegen, nicht mehr erfüllt hat. Gegenüberstellungen mit Vergleichsgruppen außerhalb des öffentlichen Dienstes führen im Rahmen der Gesamtabwägung zu keiner anderen Bewertung. Schließlich sind verschiedene Einschnitte im Bereich des Beihilfe- und Versorgungsrechts zu berücksichtigen, die das zum laufenden Lebensunterhalt verfügbare Einkommen zusätzlich gemindert haben.
Kollidierendes Verfassungsrecht, zu der auch die Verpflichtung zur Haushaltskonsolidierung (Art. 109 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Art. 143d Abs. 1 GG) zählt, vermag diese Unterschreitung des durch Art. 33 Abs. 5 GG gebotenen Besoldungsniveaus nicht zu rechtfertigen. Insbesondere hat das Land Berlin nicht dargetan, dass die teilweise drastische Abkopplung der Besoldung der Richter und Staatsanwälte von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung in Berlin Teil eines schlüssigen und umfassenden Konzepts der Haushaltskonsolidierung gewesen wäre, bei dem die Einsparungen – wie verfassungsrechtlich geboten – gleichheitsgerecht erwirtschaftet werden sollten.“
(vgl. BVerfG-Pressemitteilung Nr. 63/2020 vom 28. Juli 2020 zum Beschluss vom 04. Mai 2020, Az.: 2 BvL 4/18; s.a. BVerfG, Beschluss vom 04. Mai 2020 – 2 BvL 4/18 –, juris).
Das BVerfG hat somit die Sichtweise des BVerwG in dem Vorlagebeschluss vom 22.9.2018 (vgl. BVerwG, Vorlagebeschluss vom 22. September 2017 – 2 C 56/16, 2 C 57/16, 2 C 58/16 –, BVerwGE 160, 1-54) -insbesondere zur Bedeutung/Reichweite des Abstandsgebots und der absoluten Besoldungsuntergrenze bei verfassungswidriger Unterschreitung des Mindestabstands der unteren Besoldungsgruppen zum Sozialhilfeniveau- bestätigt. Die Entscheidung hat Gesetzeskraft und ist gemäß § 31 BVerfGG bindend.
Der Beschluss des BVerfG bringt auch über den Bereich der dort streitgegenständlichen Berliner Richter-Besoldung (bundesweit) weitere Klarheit bei der regelmäßig schwierigen/komplexen rechtlichen Bewertung und Reichweite des Alimentationsprinzips (einschließlich der damit untrennbar zusammen hängenden weiteren hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums).
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