Muss die tatsächliche Arbeitszeit der Arbeitnehmerin/des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber erfasst werden und gilt diese Pflicht auch in der Bundesrepublik Deutschland?
Unter anderem diese Frage musste das Bundesarbeitsgericht in Erfurt in seinem aktuellen Urteil zur Arbeitszeiterfassung vom 13.9.2022 beantworten.
Hintergrund Die oben genannte Frage war eigentlich bereits seit dem Urteil des Großen Senats am Europäischen Gerichtshof vom 14.9.2019 (EuGH, Urteil vom 14. Mai 2019 – C-55/18 –, juris) entschieden. Demnach besteht gemeinschaftsrechtlich (und damit grds. auch in sämtlichen Mitgliedstaaten) gem. Art. 3, 5 und 6 EGRL 88/2003, Art. 31 Abs. 2 EUGrdRCh, EWGRL 391/89 (- Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit - tägliche und wöchentliche Ruhezeit - wöchentliche Höchstarbeitszeit -) die Pflicht des Arbeitgebers zur Einrichtung eines Systems zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit. Die Daten der objektiven Erfassung sind demnach durch den Arbeitgeber für Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmer auch zugänglich zu machen (a. a. O.).
Im Nachgang wurde jedoch an den deutschen Arbeitsgerichten weiter über diese Verpflichtung und deren Folgen für deutsche Arbeitgeber (zuletzt insbesondere im Zusammenhang mit der Darlegungs- und Beweislast von Überstunden/Mehrarbeit - vgl. u.a. BAG, Urteil vom 4. Mai 2022 – 5 AZR 474/21 –, juris) gestritten. Parallel wurde/wird vom Bundesgesetzgeber über eine entsprechende Änderung und Anpassung der Vorschriften im deutschen Arbeitszeitgesetz (ArbZG) debattiert. Die Umsetzung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in nationales Recht ließ weiter auf sich warten.
Entscheidung des BAG Nun hat das Bundesarbeitsgericht in Erfurt (BAG) mit einer aktuellen Grundsatzentscheidung des ersten Senats festgestellt, dass diese Arbeitgeberpflicht auch in der Bundesrepublik Deutschland bereits aus den bestehenden Vorschriften im Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) besteht und jedenfalls bei gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung hergeleitet werden muss (vgl. BAG, Beschluss vom 13. September 2022, Az.: 1 ABR 22/21, BAG-Pressemitteilung Nr. 35/22 vom 13.9.2022).
Die (scheinbar) noch bestehende Frage, ob Arbeitgeber zur Arbeitszeitdokumentation verpflichtet sind, muss demnach zweifelsfrei auch für die BRD bejaht werden.
In dem Verfahren vor dem BAG ging es darum, dass ein Betriebsrat aus dem Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) ein Initiativrecht zur Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung gegenüber dem Arbeitgeber nach ausbleibender Einigung mit dem Arbeitgeber erzwingen wollte (BAG, a. a. O.). Der Betriebsrat hatte dafür in einem Beschlussverfahren vor den Arbeitsgerichten die Feststellung begehrt, dass ihm ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems zusteht (a. a. O.).
Das Landesarbeitsgericht hatte dem Antrag des Betriebsrats stattgegeben (a. a. O.). Die gegen diese Entscheidung gerichtete Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberinnen hatte vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg (a. a. O.).
Da Arbeitgeber nach Auffassung der Richter am BAG nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz bereits verpflichtet sind, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann, könne der Betriebsrat auf Grund dieser gesetzlichen Pflicht die Einführung eines Systems der (elektronischen) Arbeitszeiterfassung im Betrieb nicht mithilfe der Einigungsstelle erzwingen (a. a. O.). Ein entsprechendes Mitbestimmungsrecht nach § 87 BetrVG bestehe nämlich nur, wenn und soweit die betriebliche Angelegenheit nicht schon gesetzlich geregelt ist (a. a. O.).
Der Betriebsrat hat nach § 87 Abs. 1 BetrVG in sozialen Angelegenheiten nur mitzubestimmen, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht (a. a. O.). Bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG ist der Arbeitgeber jedoch gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen (a. a .O.). Dies schließt ein – ggfs. mithilfe der Einigungsstelle durchsetzbares – Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung aus (a. a. O.).
Rechtliche Bewertung
Die Entscheidung des BAG ist nicht zuletzt gemeinschaftsrechtlich zu begrüßen. Nach der letzten Entscheidung des 5. Senats am BAG im Kontext der Darlegungs- und Beweislast durch vom Arbeitnehmer geforderte Abgeltung von Überstunden/Mehrarbeit (BAG, Urteil vom 4. Mai 2022 – 5 AZR 474/21 –, juris) war in Verbindung mit der bislang nur zögerlichen Umsetzung der Rechtsprechung des EuGH in nationales Recht im Hinblick auf die eingangs gestellte Frage durchaus Ernüchterung bei Arbeitnehmervertretern eingezogen.
Nun dürfte jedoch feststehen, dass sich aus den Vorschriften im Arbeitsschutzgesetz i.V.m. der Rechtsprechung des EuGH bereits die Pflicht zur objektiven Arbeitszeiterfassung ergibt. Die bisher „langatmigen“ Debatten zur Änderung des bisherigen deutschen Arbeitszeitgesetzes dürften daher von der Rechtsprechung des BAG überholt werden.
Die Entscheidung, die unmittelbar für enorme Aufmerksamkeit in einschlägigen Medien sorgte* wird mutmaßlich weit reichende Auswirkungen auf das deutsche Arbeits- und Arbeitszeitrecht entfalten. Schließlich betrifft diese Pflicht zwangsläufig u.a. auch den bisher vollständig von jedweder effektiver Arbeitszeiterfassung „ausgeklammerten“ Schuldienst und Hochschuldienst (also Lehrer und Hochschullehrer).
Auch die zuletzt nochmals vom BAG durch den 5. Senat geklärte Frage der weiter grundsätzlich auf Seiten des Arbeitnehmers liegenden Darlegungs- und Beweislast im Hinblick auf die Abgeltung von Überstunden dürfte im Lichte der nunmehr aus Sicht des höchsten deutschen Arbeitsgerichts geltenden rechtlichen Bewertung des Arbeitsschutzgesetzes faktisch von der Lebenswirklichkeit überholt werden. Besteht nämlich bei gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung der Vorschriften im Arbeitsschutzgesetz national (und daneben auch gemeinschaftsrechtlich) die Pflicht für den Arbeitgeber, die Arbeitszeit objektiv zu erfassen und die Erfassung den Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmern objektiv zugänglich zu machen, betrifft dies im Ergebnis selbstredend auch angeordnete und geleistete Überstunden bzw. Mehrarbeit. Daher wird es zukünftig auf bisher an den Arbeitsgerichten häufige Fragen der Darlegungs- und Beweislast der Anordnung/Leistung von Überstunden wohl nicht mehr gehäuft ankommen. Auch Rechtsstreitigkeiten hierzu dürften - jedenfalls bei Einhaltung der Pflichten durch den Arbeitgeber - in Zukunft eher abnehmen als zunehmen.
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